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Entwicklungstendenz der Fachgenese im 19. und frühen 20. Jahrhundert

(Alexander M. Kalkhoff, Universität Regensburg)

Die Romanistik respektive Romanische Philologie – wie sie in der historisch-philologischen Tradition des 19. Jahrhunderts stehend bisweilen auch heute noch genannt wird – entwickelte sich ab ca. 1820 konzeptuell und institutionell an den deutschen Universitäten zu einem eigenständigen Universitätsfach. Vor allem in der ideengeschichtlich ausgerichteten Fachgeschichtsschreibung werden das Erscheinen der dreibändigen Grammatik der romanischen Sprachen (1836, 1838, 1844) und des Etymologischen Wörterbuchs der romanischen Sprachen (1853) des Bonner Romanisten Friedrich Diez zu den Geburtsstunden unseres Faches stilisiert. Sowohl gegen diese Vorstellungen von quasi-mythischen Gründungs- und Entwicklungsmomenten als auch gegen die im Begriff der Romanischen Philologie enthaltenen Idee von der Einheit des Objektbereichs (Sprachen und Literaturen aller romanischen Völker) und der Methode (philologische Methode) sperren sich bereits von Anbeginn die komplexen, langwierigen, individuellen und letztlich kontingenten Entwicklungsszenarien an den verschiedenen Universitätsstandorten.

Die maßgebenden ideologischen Projekte, die die Herausbildung einer romanischen Fachwissenschaft im frühen 19. Jahrhundert begleiteten und beförderten, sind die deutsche Romantik und der philosophische Idealismus. Mittels vergleichender Literaturbetrachtung und Editionen früher volkssprachlicher Texte glaubte man, zum Ursprung des menschlichen Geistes bzw. später zum Volksgeist der jeweiligen Nationen vorzudringen. So sind u. a. Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Jacob Grimm sowie August Immanuel Bekker aufgrund ihrer romanisch-philologischen Forschungen und Editionsprojekte durchaus als Romanisten avant la lettre zu bezeichnen. Erste zaghafte Versuche der Institutionalisierung der romantischen Idee einer vergleichenden Literaturgeschichte, in der romanische Literaturen eine Schlüsselrolle einnahmen (Dante, Cervantes, Camões), lassen sich an den Universitäten Berlin (1810) und München (1826) beobachten. Aufs engste verbunden mit diesem Projekt einer vergleichenden Literaturgeschichte ist der Versuch, spezielle Dante- Professuren u.a. in Berlin, Halle und München zu schaffen, da sich Dante im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert eines außerordentlich großen bildungsbürgerlichen Interesses erfreute. Auch die historisch-vergleichende Grammatik, die Diez in Anlehnung an die Deutsche Grammatik (1819–1837) des Germanisten Jacob Grimm als neue und wegweisende Methode für die Romanische Philologie fruchtbar gemacht hatte, ist ein Kind des romantischen Zeitgeistes. Mit seiner historischen und vergleichenden Grammatik war es Diez einerseits gelungen, der Romanischen Philologie eine Methode sui generis zu geben, die sich in Folge leitmotivisch durch die romanistischen Forschungen bis in die Gegenwart ziehen wird, und andererseits den Objektbereich idealiter als Gesamtheit aller romanischen Sprachen präfiguriert und somit die Ausdifferenzierung eigenständiger romanischer Einzelphilologien (Spanische, Italienische usw. Philologie) für die Zukunft weitgehend ausschließt. Darüber hinaus führt Diez’ methodische Vorlage auch zu einer Homogenisierung der romanistischen Forschungslandschaft bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, da sie zum Maßstab wird, an dem sich noch lange alle Romanisten messen lassen müssen. So kommt beispielsweise 1867 bei der Besetzung des neu geschaffenen prestigeträchtigen Lehrstuhls für Romanische Philologie an der Berliner Universität einzig und allein der Diez-Schüler Adolf Tobler in Betracht, der von den verantwortlichen Instanzen in Universität und Ministerium sehr bewusst als neuer Typus des romanistischen Wissenschaftlers wahrgenommen wird. Sind noch bis in die 1860er Jahre durchaus individuelle Entwicklungen beobachtbar (u. a. Halle: Dante-Philologie um Ludwig Gottfried Blanc, Marburg: abendländische bzw. neuere Sprachen und Literaturen um Victor Aimé Huber, Rostock und Heidelberg: europäische Mittelalterphilologie um Karl Bartsch), so konvergieren romanistische Forschung und Lehre spätestens ab den 1870er Jahren inhaltlich und methodisch. Institutionell gespiegelt werden die beachtlichen Entwicklungen auf dem Feld der romanischen Forschung in einem Institutionalisierungsschub ab Mitte der 1870er Jahre (Gründung von Lehrstühlen, Seminaren und Bibliotheken für Romanische Philologie an allen deutschen Universitäten), der Gründung der Zeitschrift für romanische Philologie (1877) und der Gründung des Deutschen Neuphilologen-Verbands (1886).

Institutionalisierung und inhaltlich-methodische Engführung führen dazu, dass um 1880 von einer romanistischen Fachwissenschaft im engeren Sinn mit abgestecktem Bezugsrahmen gesprochen werden kann. Für den Zeitgenossen ist mithin klar, was unter dem Etikett Romanische Philologie foschungsprogrammatisch firmiert und vom universitären Curriculum zu erwarten ist, sollte sich dieser für ein Studium der Romanischen Philologie entscheiden: historische und moderne Laut- und Formenlehre vornehmlich des Französischen, Italienischen, Provenzalischen und Spanischen, Syntax, Metrik, Etymologie, Lautphysiologie, Literaturgeschichte, Interpretation ausgewählter Autoren (Molière, Racine, Lafontaine, Dante, Petrarca, Ariost, Tasso, Calderón, Cervantes, Camões), Sprachdenkmäler des romanischen Mittelalters, gelegentlich Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts (u. a. Rousseau, Hugo), Altfranzösisch und Altprovenzalisch; ergänzt wird das Studium durch Seminarübungen und sprachpraktischen Lektorenunterricht. Es ist auch die Zeit der ersten großen synoptischen und enzyklopädischen Darstellungen des zeitgenössischen Wissensstandes und der Forschungsergebnisse für die Romanische Philologie; so erscheinen zwischen 1884 und 1888 die vierbändige Encyklopädie und Methodologie der romanischen Philologie von Gustav Körting und 1888 der erste Band von Gustav Gröbers monumentalem Grundriss der romanischen Philologie (3 Bde., 1888–1902).

Aufs engste verflochten mit der Herausbildung einer romanistischen Fachwissenschaft ist die Etablierung der französischen Sprache an den ab den 1850er Jahren gegründeten realpädagogischen Bildungsanstalten (höhere Bürgerschule, Realschule, Realgymnasium, Oberrealschule). Der Preis für den Aufstieg des Französischen zum ‚höheren Bildungsmittel’ ist jedoch seine Ferne zur lebensweltlichen Kommunikation infolge der engen didaktischen Anlehnung an den normativen altsprachlichen Unterricht (Grammatik-Übersetzungs- Methode, formal-logische Schulung der Schüler). Erwarben zunächst in Ermangelung eines eigenständigen fachwissenschaftlichen Studiums Altphilologen und Mathematiklehrer automatisch die Lehrbefugnis für Französisch, so drängen mit der allmählichen institutionellen und sozio-kulturellen Anerkennung der Romanischen Philologie immer mehr fachspezifisch ausgebildete Französischlehrer in die Schulen, so dass es nur eine Frage der Zeit war, dass sich diese Lehrer zur Neusprachlichen Reformbewegung Mitte der 1880er Jahre formierten, einer Bewegung, die sich vehement für eine den modernen Fremdsprachen angemessene Methodik einsetzte. Jedoch standen romanistische Fachwissenschaft und die Belange des schulischen Französischunterrichts nie wirklich im Einklang. Gingen die Seminargründungen zumeist auf ministerielle Initiativen zur verbesserten Lehrerausbildung zurück, so waren die dort behandelten Gegenstände in den meisten Fälle ausschließlich fachwissenschaftlich motiviert und orientierten sich in den seltensten Fällen an den realen Bedürfnissen künftiger Fremdsprachenlehrer. Ebenso geriet das vor allem in den 1860er und 1870er Jahren dominante Modell romanisch-englischer Doppelprofessuren und Seminare (u.a. an den Universitäten Breslau, Göttingen, Greifswald, Gießen, Kiel, Königsberg, Marburg, München und Würzburg) in die Kritik, da diese statt der fachwissenschaftlichen Logik folgend zu sehr nach den Bedürfnissen der neuphilologischen Lehrerausbildung ausgerichtet seien, so dass diese in den 1890er Jahren wieder zugunsten eigenständiger Fachvertretungen entflochten wurden.

Die wissenschaftspolitischen Bemühungen des II. Deutschen Kaiserreichs (1871–1918) um den forcierten Ausbau aller Wissenschaften wirkte sich auch günstig auf die Entwicklung der Romanischen Philologie aus, deren institutionelle, personelle und inhaltliche Ausdifferenzierung sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beschleunigte. Und so gehört es sicherlich zu den Kuriositäten der Geschichte, dass die Romanische Philologie ausgerechnet in den Jahren nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) und in einem Klima verschärften Deutsch-Nationalismus’ große Förderung zuteil wurde. Ebenso förderlich erwies sich die deutsche Institution der Habilitation, die es jungen Nachwuchswissenschaftlern erlaubte, sich auch jenseits etablierter Wissenschaftszweige für eine venia legendi zu qualifizieren. Diese jungen Privatdozenten für Romanische Philologie setzten dann ihrerseits das Hochschulsystem personalpolitisch unter Druck, was idealerweise zur Schaffung neuer ordentlicher und der für die Frühphase der Romanistik weitaus üblicheren außerordentlichen Professuren führte.

So sind die Jahrzehnte zwischen ca. 1875 und dem Ausbruch des 1. Weltkriegs die Goldgräberjahre einer international renommierten und geschätzten deutschen und österreichischen Romanistik. Noch heute nutzen Romanisten die in jenen Jahren bewerkstelligten Grundlagenforschungen zum Altfranzösischen u. a. von Wendelin Förster (Bonn), Eduard Boehmer (Halle), Hermann Suchier (Halle), Philipp August Becker (Leipzig) und Karl Voretzsch (Halle) sowie zum Provenzalischen u.a. von Carl Appel (Breslau) und Oskar Schultz-Gora (Berlin, Königsberg, Straßburg und Jena). Sowohl methodisch (historische Grammatik) als auch institutionell (Seminarübungen) lehnen sich die europäischen und nordamerikanischen Universitäten an das deutsche Modell an und es ist durchaus üblich, dass ausländische Studierende an deutschen Universitäten romanistischer Spitzenforschung beiwohnen; so studieren beispielsweise die beiden großen französischen Romanisten Gaston Paris und Joseph Bédier einige Semester in Deutschland. Romanische Philologie kann somit durchaus als eine deutsche Erfindung gelten – die Schwierigkeit, ‘Romanische Philologie’ bzw. ‘Romanistik’ in eine andere Sprache zu übersetzen und dann auch verstanden zu werden, zeugt noch heute davon.

Parallel zum institutionellen Ausbau und der soziokulturellen Anerkennung der Romanischen Philologie an den deutschen Hochschulen vollzog sich auch eine Ausdifferenzierung hinsichtlich möglicher Untersuchungsobjekte und deren methodischer Erforschung, wenngleich die historische Grammatik ihre Führungsposition behaupten konnte. Als Schlaglichter dieses Entwicklung seien erwähnt: (i) die positivistisch ausgerichteten Forschungen junggrammatischer Provenienz, der romanischen Dialektologie und der Phonetik (u.a. Wilhelm Meyer-Lübke und Bernhard Schädel), (ii) die neo-idealistische Gegenreaktion durch Wörter und Sachen, Vergleichende Dialektologie, Kreolistik und Semantik (u.a. Karl Vossler und Hugo Schuchardt) und (iii) die sich seit der Jahrhundertwende verselbständigenden literaturwissenschaftlichen Forschungen (u.a. Leo Spitzer, Ernst Robert Curtius, Hanns Heiss und Walther Küchler). Romanistische Lehrstuhl- und Seminarneugründungen, die explizit auf Bedürfnisse der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft reagierten, fanden an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt/Main (1901), an der Technischen Hochschule Dresden (1909) und am Hamburgischen Kolonialinstitut (1911) statt.

In ihren Grundfesten erschüttert wird die tüchtige und international ausstrahlende deutsche Romanistik durch den Ersten Weltkrieg (1914–1918) und dessen Folgen. Förmlich über Nacht verwandelten sich große Teile ihrer geistigen Heimat in Feindesland, ein Umstand, der sich im Kriegseinsatz im Felde und nach der deutschen Niederlage zu einer wahrhaft identitären und existentiellen Krise auswuchs. Als Remedium empfehlen sich die Neuphilologen auf ihrem ersten Nachkriegstreffen (Halle, 1920) eine nunmehr chauvinistische Kulturkunde, die die geistige Durchdringung der romanischen Völker als Feindaufklärung instrumentalisiert (Folientheorie). Zweiter wichtiger Effekt – vor allem infolge der außenpolitischen Isolation Deutschlands durch den Versailler Vertrag (1919) – ist die verstärkte Hinwendung der deutschen Romanistik nach den politisch neutralen iberoromanischen Ländern sowie Süd- und Mittelamerika, was zur Etablierung einer weitgehend eigenständigen deutschen Hispanistik respektive Lateinamerikanistik ab den 1920er Jahren führte (vor allem an der Universität Hamburg).

Gekürzte Fassung des Schlusskapitels seiner Dissertation Romanische Philologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert: Institutionengeschichtliche Perspektiven. Tübingen, Narr, 2010.